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Veränderungsbegleitung in Organisationen – eine Perspektive aus der Gestalttherapie

von Christian Pauschert

Veränderungsbegleitung in Organisationen – eine Perspektive aus der Gestalttherapie

Der Agile Coach hat viele verschiedene Facetten und Rollen. Die Rolle des Therapeuten gehört aus guten Gründen nicht dazu. Auch wenn ein Agile Coach im Berufsalltag in dieser Rolle nicht agiert, so hat die Art der Veränderungsbegleitung in diesem Metier doch Berührungspunkte mit Psychologie und Ansätzen aus therapeutischen Kontexten.

Ich möchte in diesem Artikel den Gestaltansatz und seine Relevanz für die Arbeit als Agile Coach beleuchten. Ursprünglich handelt es sich dabei um einen therapeutischen Ansatz, der als Gestalttherapie von Fritz und Laura Perls sowie Paul Goodman in den 40er und 50er Jahren entwickelt wurde.

In der Gestalttherapie ist das Verhältnis zwischen Therapeut und Klient als eines definiert, bei der der Therapeut Begleiter und Unterstützer ist und die Klienten die Experten ihrer selbst sind. Daher wird in der Gestalttherapie auch nicht von Patienten, sondern von Klienten gesprochen. Da diese Definition der Haltung im Coaching ähnlich ist, wird der Begriff Klient im Folgenden sowohl für Klienten im therapeutischen Kontext wie auch im Kontext des agilen Coachings verwendet.

 

Die Situation des Agile Coaches im Vergleich zum Therapeuten

Gestalttherapeuten kultivieren die Haltung des Nicht-Wollens, bei dem angenommen wird, dass der Klient der Experte für sein System ist und die Lösung letztlich in sich trägt. Das deckt sich weitgehend mit der Grundhaltung im Coaching. Die Situation eines Agile Coaches ist jedoch etwas speziell. Auch wenn die Haltung des Nicht-Wollens in diesem Kontext ebenfalls vorteilhaft sein kann, so haben Agile Coaches in der Regel einen Auftrag. Somit unterscheidet sich das Setting im agilen Coaching in der Organisation von dem klassischen therapeutischen Setting, bei dem ein Klient aus freien Stücken einen Therapeuten aufsucht. Es liegt bei der Beratung in Organisationen fast immer eine Art Triangulation vor zwischen einem Auftraggeber in der Organisation, dem Berater und den Mitgliedern der Klientenorganisation, mit denen der Berater täglichen Kontakt hat und in deren Umfeld eine Veränderung angestrebt wird. Dies hat oft spürbare Auswirkung in der Beziehungsdynamik. Bei Klienten, die einen Therapeuten aufsuchen und den Kontakt als positiv erleben oder gar den Therapeuten als möglichen Helfer in der Not ansehen, beobachtet man häufiger die Dynamik, dass der Klient dem Therapeuten gefallen will. Ein Agile Coach, der neu in eine Organisation kommt, bewirkt oft die Dynamik, sich dort erst mal beweisen zu müssen, nach dem Motto „Zeig mal was du kannst“. In therapeutischen Kontexten sind Triangulationen seltener, aber auch vorhanden. Man denke z.B. an die Familientherapie, bei der u.U. nicht alle Mitglieder des Familiensystems mit der gleichen Motivation präsent sind. Ein noch extremeres Beispiel ist die forensische Psychiatrie, die sich mit von Amtswegen beauftragten Gutachten z.B. der Schuldfähigkeit von Straftätern befasst.   So kann beispielsweise eine unbewusste Diskrepanz zwischen dem Selbstbild und Fremdbild der Rolle des Agile Coaches in einem Team bestehen. Der Coach nimmt sich wahr als wohlwollender Helfer im Problemkontext, während das Team das Gefühl hat, einen Gutachter bekommen zu haben, der feststellen soll, wer Schuld hat am Schlamassel.

 

Was ist der Gestaltansatz?

Es ist gar nicht so leicht eine klare Definition des Begriffs “Gestalt” in diesem Kontext zu finden. Fritz Perls hat sich dieses Begriffs aus der Gestaltpsychologie bedient und er wurde auch als Fremdwort ins Englische übernommen. Die Gestalt ist hier in etwa gleichbedeutend mit „Ganzheit“, beruhend auf der Erkenntnis der Gestaltpsychologen, dass der Mensch seine Wahrnehmung zu sinnvollen Einheiten – Gestalten – zu schließen versucht. Perls ging davon aus, dass viele Menschen „zersplittert“ sind, ihnen die Ganzheit fehlt. Ziel der Gestalttherapie ist es daher dem Menschen zu helfen, sich seiner abgespaltenen, unbewussten Anteile bewusst zu werden und sie zu integrieren. Man könnte auch sagen die Gestalt ist das Done-Inkrement der Psyche.

Die Bewusstheit oder das Gewahrsein, als Übersetzung des englischen „awareness“, war für Perls der entscheidende therapeutische Wirkfaktor. Besonders in der Veränderungsbegleitung auf Organisationsebene birgt dieser Aspekt ein oft nicht genutztes Potenzial, worauf ich im Folgenden noch weiter eingehen werde.

Eine weitere Charakteristik des Gestaltansatzes ist der Fokus auf das Hier-und-Jetzt. Der Mensch ist nicht Opfer seiner Vergangenheit und es geht auch nicht um eine imaginäre Zukunft. Daher interessiere ich mich, wenn ich als Agile Coach mit Problemen konfrontiert werde, nicht primär für Erklärungen, warum alles so kommen musste wie es ist, sondern interessiere mich mehr dafür, wie die Klienten es schaffen, ihre aktuellen Bedürfnisse nicht zu befriedigen. Diese Frage nach dem Wie, anstatt dem häufig verwendeten Warum direkt an einzelne Personen oder ein Team zu stellen kann vor allem bei Teamkonflikten einen heilsamen Perspektivwechsel bewirken. In einem konkreten Fall war ein Team generell sehr unzufrieden mit der Zusammenarbeit im Team und es bestand der Wunsch, dass ich als Scrum Master da mal etwas zur Verbesserung tun könnte. Was zunächst geschah war eine Begegnung mit dem, was man in der Gestalttherapie auch als „Paradox der Veränderung“ bezeichnen kann. Je mehr ich mich bemühte, Lösungen zu finden, desto mehr schien sich das Problem zu verfestigen. Bis zu dem Tag, an dem ich in etwa sagte: „Ich habe gerade keine Lösung für dieses Problem. Und mich interessiert: WIE macht ihr das, dass ihr so unzufrieden seid?“. Die Frage sorgte für große Irritation und ich wusste, ich hatte einen Punkt getroffen. Ich hatte keine schnelle Antwort auf die Frage erwartet und auch keine bekommen. In der Folge geschahen jedoch interessante Dinge. In der nächsten Retrospektive ließen dann einige Teammitglieder, die bisher passiv und resigniert wirkten, ihrer Frustration freien Lauf und sagten, was ihnen alles stinkt. Einer übernahm in den Wochen danach die Verantwortung für sein Gefühl, nicht am richtigen Platz zu sein und suchte sich eine andere Arbeitsumgebung. Es war eine unruhige Zeit, aber es kam Bewegung in die festgefahrene Situation und es ging von da an stetig aufwärts.

 

Der Gestalt-Erlebens-Zyklus als Modell zur Veränderungsbegleitung auf Organisationsebene

Auch wenn vieles aus der Gestalttherapie darauf ausgerichtet ist, dem Individuum zu helfen, so wurde sie auch auf Gruppen, Familien und Organisationen angewendet. Das Gestalt Institute of Cleveland hat den Prozess, der auf Organisationen ausgerichtet ist als Gestalt-Erlebens-Zyklus zusammengefasst.

Wie im vorherigen Kapitel erwähnt, ist Bewusstheit ein entscheidender Wirkfaktor im Gestaltansatz. Auch im Gestalt-Erlebens-Zyklus ist dies eine entscheidende Phase. Dieser geht jedoch noch eine Phase der Empfindung voraus. Um zu klären, was hiermit gemeint ist und den Zusammenhang dieser Phasen zu erläutern, ziehe ich das Konzept der Figur-Grund-Beziehung aus dem Gestaltansatz heran. Die Figur beschreibt in der Gestalt das Thema, welches aus den vielfältigen Wahrnehmungen und Ereignissen, die gleichzeitig passieren, aus dem Hintergrund (Grund) in den Vordergrund rückt und Interesse und Aufmerksamkeit weckt. Dies kann je nach Situation einer Person unterschiedlich ablaufen. So nimmt jemand beispielsweise einen Supermarkt anders wahr, wenn er ihn hungrig mit der Möglichkeit etwas zu kaufen betritt im Vergleich zu jemandem, der beauftragt ist, dort eine Wareninventur durchzuführen. Je nachdem treten andere Wahrnehmungen in den Vordergrund und werden zu Figuren.

Beginnend mit solch einer Empfindung oder Erregung geht der Gestalt-Erlebens-Zyklus über in eine wachsende Bewusstheit dessen, was in einem selbst und der Umgebung vorgeht. Es treten also Wahrnehmungen in Vordergrund, die Interesse und Aufmerksamkeit wecken. Die Aufmerksamkeit in Bezug auf die Figur bzw. das Thema steigert sich in die weitere Mobilisierung von Energie. Das Thema rückt noch stärker in den Fokus und eine Art Vorspannung für die folgende Aktion entsteht. Die Aktion selbst besteht aus irgendeiner Form der Handlung und führt zur Phase des Kontakts. Hierbei entsteht eine neue Erfahrung aus der Beschäftigung mit dem Thema an der Grenze zwischen dem Selbst und der Umwelt. Es ist der Punkt, an dem die Erfüllung des Bedürfnisses erreicht wird, wobei nicht notwendigerweise gemeint ist, dass genau das erreicht wird, was man sich initial vorgestellt hat. Kontakt ist definiert als der Punkt der Erkenntnis, was möglich ist, nicht der Erreichung des Wunsches. Aus der Erfahrung des Kontakts wird in der Phase der Resolution eine Bedeutung gewonnen und so das Thema zu einem sinnhaften Abschluss geführt. Im Anschluss wird die Aufmerksamkeit von dem Thema zurückgenommen und es entsteht Raum für einen weiteren Erlebens-Zyklus. Abbildung 1 stellt das Niveau der Energie während eines Erlebens-Zyklus dar.

 

Abbildung 1: Erlebens-Zyklus als Kurve der Energie (Nevis, 1988)

 

Die praktische Relevanz dieses Zyklus ergibt sich, wenn man bedenkt, dass jedes Mitglied einer Organisation in Bezug auf ein Thema einen eigenen Zyklus durchläuft. Diese sind nicht notwendigerweise synchron mit denen der anderen Menschen in der Organisation. Wenn jemand in Bezug auf ein Thema das Stadium der Bewusstheit noch nicht hinreichend durchlaufen hat, von ihm aber Handlung erwartet wird, kann es zu Widerstand kommen. Auch kann sich eine Führungskraft gelegentlich fragen, ob festgelegten Maßnahmen genügend Bewusstheit vorausging. Denn Transformationen oder Umstrukturierungen in einem Unternehmen sehen mit etwas Abstand betrachtet oft so aus, als versuche eine motivierte Minderheit eine zögernde Mehrheit mitzureißen. Vieles dreht sich um Aktivierung und Handlung. Die Phase der Bewusstheit wird gelegentlich vernachlässigt und es wird nicht versucht, diese bei den Mitgliedern der Organisation mehr in Einklang zu bringen, sodass alle vom gleichen Punkt aus starten.  

In (Nevis, 1988) werden die Phasen des Gestalt-Erlebens-Zyklus mit Stadien der Entscheidungsfindung auf Führungsebene verglichen. Diese Beziehung ist in Tabelle 1 dargestellt. Die aufgezeigte Beziehung kann für den Berater als Leitfaden für effektive Intervention dienen. Mit dem Zyklus als Orientierung kann der Berater den Entscheidungsfindungsprozess in der Organisation des Klienten im Auge behalten und darauf achten, dass jede Phase gut durchlaufen wird und seine Interventionen darauf ausrichten, was der Organisation fehlt und was benötigt wird, um den Prozess zu verbessern.

Tabelle 1: Beziehung zwischen Phasen des Gestalt-Erlebens-Zyklus und Stadien der Entscheidungsfindung auf Führungsebene (Nevis, 1988)

Phase des Gestalt-Erlebens-Zyklus

Korrespondierendes Verhalten der Entscheidungsfindung auf Führungsebene

Bewusstheit

Gewinnen von Daten

Beobachten der Umwelt

Informationssuche

Rückblick auf die Entwicklung des bisher Geleisteten

Energie / Handlung

Energie und Interesse für Ideen und Vorschläge aktivieren

Identifizieren von Uneinigkeiten, Konflikten und konkurrierenden Interessen

Streben nach maximaler Mitwirkung

Kontakt

Einigung auf ein gemeinsames Ziel

Gemeinsames Anerkennen der Problemdefinition

Kenntlichmachen von Verständnis, nicht notwendigerweise Übereinstimmung

Wahl einer möglichen Vorgehensweise

Lösung / Abschluss

Überprüfen des gemeinsamen Verständnisses

Besprechen des Geschehenen

Anerkennung dessen, was erreicht wurde und was zu tun bleibt

Generalisieren der Lernergebnisse

Erkennen der Bedeutung der Diskussion

Implementierungspläne anstoßen

Rückzug

Pausieren um die Dinge „sich setzen“ zu lassen

Hinwendung zu anderen Aufgaben und Problemen

Die Zusammenkunft beenden

 

Das Konzept des Gestalt-Erlebens-Zyklus hat den Vorteil, dass es Erfahrungen als Prozesseinheiten in einer Weise sieht, die es dem Agile Coach erleichtert, der Interaktion in der Organisation einen Anfang und ein Ende zu geben. Ist ein Zyklus vollendet, gibt es eine klare Vorstellung davon, was erreicht wurde und was nicht oder womit die Organisation aktuell noch nicht umgehen kann. Auch kann es einen Leitfaden sein, um zu überprüfen, ob Vorhaben zu einem sinnvollen Abschluss geführt wurden oder ob noch Prozesse – man kann sie im Sinne des Gestaltansatzes hier auch Gestalten nennen - offen sind. Nicht geschlossene Gestalten verlangen immer irgendwann Energie und Aufmerksamkeit.

Zusammenfassung

Dieser Artikel hat eine kurze Einführung in den Gestaltansatz im Kontext des agilen Coachings gegeben und eine Abgrenzung zu therapeutischer Tätigkeit dargestellt. Es geht dabei im Grunde um den Prozess der Bewusstheit und das Umsetzen dieser Bewusstheit in zweckmäßiges Handeln. Der Gestalt-Erlebens-Zyklus kann als eine erste Orientierung dienen für Agile Coaches, die den Gestaltansatz in ihre Arbeit integrieren möchten.

 

Quellen

Frank-M. Staemmler & Werner Bock: „Ganzheitliche Veränderung in der Gestalttherapie“, 4. Auflage, 2007.

Edwin C. Nevis: „Organisationsberatung – Ein Gestalttherapeutischer Ansatz“, Edition Humanistische Psychologie, 1988.

 

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