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Systemische Fragetechniken im Agilen

von Vera Hofheinz und Christoph Jung

Systemische Fragetechniken im Agilen

„Fragen können wie Küsse schmecken“ lautet der Titel eines Buches von Carmen Kindl-Beilfuß. Er lässt schon ahnen, dass Fragen, die in unserer täglichen Kommunikation eine wichtige Rolle spielen, gut oder weniger gut geeignet sein können, um uns auf neue Gedanken zu bringen und damit neue Handlungsoptionen zu erkennen. Und genau darum geht es, wenn wir von systemischen Fragetechniken sprechen. 

Denn in allen Organisationen, egal ob es das „agile“ Startup ist oder die "klassisch" aufgestellte Organisation, begegnen uns immer wieder dieselben Herausforderungen: In Veränderungsprozessen treffen wir auf versteckte oder offene Widerstände, Konflikte werden nicht bearbeitet, reiben uns auf und lenken uns von der Wertschöpfung ab. Entscheidungen zu treffen, fällt uns schwer, oder sie werden oftmals noch von wenigen Menschen in der Organisation getroffen und es fehlt ihnen ein gutes, nachhaltiges Fundament. 

Um in solch festgefahrene Situationen und Prozesse neuen Schwung zu bringen, kann es hilfreich sein, gute Fragen zu stellen und damit den Blick auf neue Perspektiven zu lenken. Nicht selten können dadurch Konflikte und Widerstände positiv genutzt und neue Lösungsansätze entdeckt werden. 

Deshalb wollen wir euch heute einige Fragetechniken aus dem systemischen Coaching / der systemischen Organisationsentwicklung vorstellen und anhand konkreter Beispiele zeigen, wie man sie im Alltag als Coach, Agile Coach, Scrum Master oder Führungskraft einsetzen kann.  

Trotz aller Methoden und Fragetechniken - Entscheidend ist die Haltung  

Gute Fragen allein oder auch andere systemische Methoden sind immer nur die halbe Miete. Vielmehr kommt es auf die Haltung des Fragenden an. Hier kann uns die systemische Denkweise bzw. die Systemische Haltung Orientierung geben. Mit ihr sorgen wir dafür, dass unsere Fragen eher „lösend“ wirken, anschlussfähig für die Realität unseres Gegenübers oder innerhalb der Organisation sind und damit auch nachhaltiger wirken. 

Die systemische Haltung findet ihren Ursprung in der Systemtheorie, wo sich der Fokus der Betrachtungen weg vom einzelnen Objekt (z.B. der Mensch mit seinen Eigenschaften) hin zu den Zusammenhängen, Wechselwirkungen und nicht-linear-kausalen Zusammenhängen in komplexen Kontexten (wie z.B. soziale Systeme, wie Familien und Organisationen) verschiebt. Der sog. Konstruktivismus – als Teil der systemischen Lehre – bietet darüber hinaus ein Model, das annimmt, dass sich alle Menschen ihre jeweils eigene Realität selbst schaffen, die sich aus eigenen Erfahrungen und Wertesystemen speist und in sich immer „richtig“ ist. Weitere wichtige Bausteine sind die Prinzipien Ressourcen-Orientierung und Lösungsfokussierung. Sie bieten die Annahme, dass Beteiligte in einem Kontext immer die nötigen Ressourcen und Fähigkeiten besitzen, eine Veränderung für sich oder ihr Umfeld zu erreichen, und dass die Konzentration auf Lösungen mehr hervorbringt als die genaue Analyse und Lokalisation des vermeintlichen Problems. 

Wenn es uns gelingt, mit dieser Haltung als Führungskraft, Agile Coach oder Scrum Master den Menschen in der Organisation zu begegnen, dann schaffen wir damit eine Atmosphäre der Offenheit und Wertschätzung, in der Veränderung nachhaltig gestaltet werden kann. 

Im Folgenden wollen wir euch drei Kategorien von Fragen einmal näher vorstellen, und auch Beispiele nennen. 

Skalierungs- und Prozentfragen 

Skalierungs- und Prozentfragen laden dazu ein, Standpunkte, Meinungen, Überzeugungen und Stimmungen über eine Situation oder über ein Verhalten von sich selbst und anderen genauer zu differenzieren. Sie können vor allem auch Ambivalenzen, widersprüchliche Strebungen in einzelnen und in sozialen Systemen verdeutlichen und im weiteren Verlauf auch Bewegung in festgefahrene Muster und Prozesse  initiieren. Wichtig ist hierbei, zum einen die IST-Situation abzufragen, dann aber auch “Bewegung” in das System zu bringen, indem man nach den möglichen Veränderungen / Verbesserungen fragt und die Unterschiede zwischen jetzt und zukünftig herausarbeitet. Dadurch entstehen neue Möglichkeitsräume und Impulse für Handlungen. 

Beispiele: 

  • „Auf einer Skala von 1 bis 10, wie gut geht es Dir in Deinem neuen Team?“ 
  • „Wenn ein ganzer Kuchen 100% Deiner Zeit darstellen würde, wieviel Prozent davon verbringst Du mit Arbeit, mit Familie und Freunden, für Dich?“ 
  • „Wie hoch schätzt Du, ist die Wohlfühltemperatur in Deinem Team? Was treibt den Wert nach oben, was nach unten?“ 
  • „Wen schätzt Deine Führungskraft aus dem Team am meisten, wen am wenigsten?“ 
  • „Wer würde am meisten von dieser Veränderung profitieren, wer am wenigsten?“ 
  • „Wer sympathisiert eher mit den Mitarbeiter*innen des Teams: der Scrum Master oder die Product Ownerin?“ 
  • „Was siehst Du genauso wie Dein Kollege, worin unterscheidest Du Dich deutlich?“ 

Zirkuläre Fragen 

Zirkuläre Fragen beziehen den Kontext, das Umfeld und andere Personen, Sichtweisen und Wirklichkeitskonstruktionen mit ein. Mit diesen Fragen wird zum einen deutlich, dass ich mir selbst auch meine Wahrheit, meine Sicht auf Situationen konstruiere, dass es aber genauso so gleichberechtigt andere Perspektiven gibt. Und ich kann möglicherweise, weil ich mich in verschiedenen Kontexten unterschiedlich verhalte oder auch unterschiedliche Rollen einnehme, aus einem Kontext für einen anderen lernen.

Beispiele: 

Die selbstbezogene zirkuläre Frage: 

  • „Was denkst Du, wie schätze ich die Situation gerade ein?“ 
  • „Wenn Du mir jetzt dazu eine Frage stellen würdest, wie würde ich darauf antworten?“ 

Die einfache, fremdbezogene zirkuläre Frage: 

  • „Was denkst Du, wie würde Dein Kollege / Deine Führungskraft / Deine Partnerin antworten, wenn ich sie zu Deinem Problem befrage?“ 
  • „Welche Gedanken könnte Dein Scrum Master zu dieser Situation sagen?“ 

Die komplexe fremdbezogene Frage: 

  • „Was würde Deine Führungskraft sagen, wenn wir ihn/sie über die Einstellung ihres Kollegen zu ihrem Problem informieren?“ 

Hypothetische Fragen 

Hypothetische Fragen können als Gedankenexperimente verstanden werden. Sie laden dazu ein, in neue Möglichkeiten zu denken und sich auch hineinzufühlen. Man traut sich damit, sich Wünsche einzugestehen und diese auch zu formulieren. Situationen werden auf einmal vorstellbar und daraus ergeben sich oftmals neue Handlungsoptionen. 

Beispiele: 

  • „Mal angenommen, dass …“ 
  • „Unterstellen wir mal, dass ...“ 
  • „Wenn folgendes passieren würde, dann …“ 
  • „Stell Dir vor …“ 
  • „Gesetzt den Fall …“ 

Und wie kann man damit arbeiten? 

Die Fragen sind natürlich nicht nur in Coaching-Situationen hilfreich, sondern können auch an vielen Stellen im Organisationsalltag einen Unterschied machen. Man kann sie z.B. in der Moderation in einem Meeting / Workshop nutzen, in einer Auftragsklärung mit dem Vorgesetzten, in der Problemklärung in der Team-Retrospektive, oder im Einzelgespräch mit dem Mitarbeiter / der Mitarbeiterin. 

Für den Anfang kann es hilfreich sein, die Fragen in unverfänglichen Situationen zu üben, z.B. in einem Gespräch mit einem Kollegen (wenn man es vorher angesprochen hat). Dabei kann man sich auch erstmal eine Liste von Fragen als Gedankenstütze bereitlegen, bis die Fragen mehr in Fleisch und Blut übergegangen sind. 

Wer mit diesem kleinen Einblick in systemische Fragetechniken Lust auf mehr bekommen hat, dem sei das Buch von Carmen Kindl-Beilfuß als weiterführende Literatur ans Herz gelegt. Und wer sich mit der Kombination von Fragetechniken mit systemischen Hypothesen beschäftigen möchte, empfehlen wir unseren Blog Artikel “Die systemische Schleife im Agilen Kontext (https://www.andrena.de/blog/artikel/systemische-schleife). 

Literatur 

Carmen Kindl-Beilfuß:
„Fragen können wie Küsse schmecken: Systemische Fragetechniken für Anfänger und Fortgeschrittene“ 

Mechthild Erpenbeck:
“Wirksam werden im Kontakt – die systemische Haltung im Coaching” 

Vera Hofheinz, Christoph Jung:
„Die Systemische Schleife im Agilen Kontext“ (Blog-Artikel)
https://www.andrena.de/blog/artikel/systemische-schleife 

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